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Charles Baudelaire

Literatur

Zum 200. Geburtstag von Charles Baudelaire


Baudelaire, ein Name, der für eine der außergewöhnlichsten Gestalten in der Welt der Lyrik steht. Zu Lebzeiten verkannt, weil seiner Zeit weit voraus, entdeckt und würdigt ihn erst die Nachwelt als eines der größten Dichtergenies Frankreichs.
 Paris, 9. April 1821. Charles-Pierre Baudelaire wird hineingeboren in eine Welt der Großstadt, ein Universum, das alle Facetten der menschlichen Existenz zu bieten hat: materieller Reichtum und Armut, expandierende Industrie und Ausbeutung, die intellektuellen Milieus des aufstrebenden Bürgertums, der Aristokratie, der Politik,  inmitten von Armut,  Prostitution, Kunst und Dreck. Baudelaires Schicksal ist bestimmt von dieser sich gegenseitig bedingenden, extremen Lebenswelt, in der die Natur keinen Platz hat und die zwischenmenschlichen Beziehungen denselben Extremen unterliegen. Er wird diese Gegensätze später als Spleen und Idéal poetisieren. Er wird nichts beschönigen, nichts auslassen und als erster unter den Lyrikern Motiven der Stadt einen sublimen Stellenwert einräumen, ihrer künstlichen, sterilen und abgründigen Seite symbolische Tiefe verleihen. Baudelaire bricht mit der Tradition. Sein am 25. Juni 1857 veröffentlichter Gedichtsband Die Blumen des Bösen (Les Fleurs du Mal) markiert literaturgeschichtlich einen wegweisenden Ausgangspunkt für die „Poesie der Zukunft“. Die Nachwelt wird ihn als Dichter der Modernität emphatisieren, als Begründer einer neuen Ästhetik, in der eine dissonante Sprache ebenfalls zum Fundament einer neuen Artikulation gehört. Den Begriff Modernité finden wir bei Baudelaire selbst in seinem Essai aus dem Jahre 1863, Le Peintre de la vie moderne (Der Maler des modernen Lebens) :

   „Es ist sehr viel bequemer zu erklären, dass alles am Gewand einer Epoche hässlich sei, als sich darum zu bemühen, die geheimnisvolle Schönheit, die in ihr enthalten sein kann, zum Vorschein zu bringen, so geringfügig oder leichtfertig sie auch sein mag. Die Modernität, das ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige, die Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist. [...] Dieses transitorische, flüchtige Element darf man nicht übergehen oder verachten. Wenn Sie es unterdrücken, fallen Sie zwangsläufig in die Leere einer abstrakten, unbestimmten Schönheit zurück.“

  Tatsächlich hatte schon über ein Jahrzehnt zuvor bereits Chateaubriand diesen Neologismus geprägt, doch im Kontext baudelairscher Poetik erfährt dieser Begriff eine neue Konnotation. Seine phänomenale Bestimmung lässt sich besonders an der Wirkung auf die Literaur und Kunst Deutschlands, Englands, Italiens und Spaniens ablesen: Sie wird zu einer „europäischen Angelegenheit“, wie Hugo Friedrich in seiner großartigen Studie zur modernen Lyrik so treffend anmerkt.
  Es ist ein anstrengender Weg, ein leidender, auf den der junge Dichter sich begibt, ohne je die Glorie des ersehnten Ruhms und der akademischen Anerkennung erleben zu dürfen. Sein jungen Jahre sind geprägt vom glücklichen Zusammensein mit seiner über alles verehrten Mutter Caroline und dem weitaus älteren Vater François Baudelaire, dessen Werdegang vom Philosophie- und Theologiestudenten über ein Priesteramt bis zur Berufung als Maler skizziert ist. Baudelaire hat sein sechstes Lebensjahr noch nicht erreicht, als der Vater 1827 stirbt. Einen Sommer lang zieht sich die junge Witwe mit ihrem Sohn Charles in ein angemietetes Haus in Neuilly, unweit des Bois de Boulogne zurück. Eine nie wiederkehrende Periode seines Lebens, während der er sich der trauernden und gleichzeitig exklusiven Mutterliebe sicher sein darf. Monate des emotionalen Glücks, die er für immer in seiner Erinnerung bewahren wird. In der Sektion Pariser Bilder (Tableaux Parisiens) der Blumen des Bösen evoziert er diesen intimen Moment seines Lebens. Hier in der ausgezeichneten Übetragung ins Deutsche von Friedhelm Kemp:

  „Ich habe es nicht vergessen, unfern der Stadt, unser weißes Haus, das klein war, doch so still: seine Pomona aus Gipps und seine alte Venus verbargen ihre nackten Glieder in einem winzigen Gehölz, und die Sonne abends, in de Pracht ihrer Strahlen, schien hinter der Scheibe, wo ihre Garbe sich brach – ein großes offenes Auge am neugierigen Himmel - unseren langen und stummen Mahlzeiten zuzuschaun: breit ergoß ihr schöner Kerzenschimmer sich über das karge Tischtusch und die Vorhänge aus Serge“.

  Diese Idylle endet im darauf folgenden Jahr. Caroline vermählt sich in zweiter Ehe mit dem ehrgeizigen Offizier Jacques Aupick. Der Stiefvater ist streng, zieht 1832 karrierebedingt mit der Familie nach Lyon. Charles soll das dortige Collège royal besuchen, wird zunächst in eine Pension abgschoben. Das autoritäre schulische Umfeld empfindet er als Internierung. Nach einem erneuten Umzug vier Jahre später, wieder zurück nach Paris, ändert sich wenig an seiner Lage. Er hasst seinen Stiefvater, verzeiht seiner Mutter diese Heirat nie, fühlt sich unverstanden, ungeliebt, verraten. Dem jungen Charles wird auf dem Weg zum Abitur nunmehr im Collège Louis-Le-Grand zwar bemerkenswertes Talent attestiert, doch er kommt mit Lehre und Lehrern nicht klar, wird von der Schule verwiesen, weil er sich weigert ein an ihn gereichtes Zettelchen eines Mitschülers auszuhändigen. Charles zerknüllt und verschluckt es lieber. Die Wurzeln des  Rebellischen, des sich der Gesellschaft Widersetzenden sind schon unübersehbar in seinem Charakter  verankert. Dabei zeigt sich unabhängig davon sein Ehrgeiz, sein Interesse am Studium der Literatur:  Er besteht dennoch sein Abitur als Externer, dank seiner exzellenten Kenntnisse in Griechisch und Latein. Das Problem Familie besteht jedoch weiterhin. Die Spannungen zwischen Eltern und schwer erziehbarem Sohn gipfeln schließlich in der Entscheidung den Jungen möglichst weit aus Paris zu entfernen, ihn auf eine exotische Reise zu schicken mit Destination Indien, Kalkutta. Noch nicht volljährig können die Eltern dies gegen alles Flehen des zukünftigen Dichters durchsetzen. Im Juni 1841legt das Paquebot des Mers du Sud ab, die Reise führt ihn bis nach Mauritius. Anders als von den Eltern geplant wird dies der Endpunkt seiner Reise sein. Zu sehr sehnt er sich zurück nach Paris, verweigert die Weiterfahrt und erwirkt Monate später seine Rückschiffung nach Frankreich.   Für Baudelaire ein völlig neuer und gewaltiger Erfahrungshorizont, der alle Themen des Exotischen, Fremden, Unbekannten beinhaltet. Zur Rekurrenz seines Vokabulars zählen fortan Himmel und Meer, die Bläue, die Weite, der Abgrund.  Albatros, eines seiner schönsten und bekanntesten Eingangsgedichte in Die Blumen des Bösen ist dieser Erfahrung gewidmet. Mit der allegorischen Gleichsetzung von Meervogel und Dichter veranschauchlicht Baudelaire die  existenzielle Problematik des vom Schicksal auserkorenen Dichters und nimmt prophetisch seine eigene Biographie vorweg:

  „Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet ; auf den Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang.“

  1842: Baudelaire ist volljährig, er nutzt sein Anrecht auf die Auszahlung eines beachtlichen Erbschaftsanteils, kann nun ein eigenständiges ungezügeltes Leben inmitten der Pariser Bohème führen. In kurzer Zeit hat er die Hälfte seines Vermögens verprasst. Eine durch seine Mutter erwirkte gerichtlich angeordnete Vormundschaft wirft ihn in den Status des sozial Bedürftigen zurück, er wird sein Leben lang mit Schulden kämpfen. Nichts Ungewöhnliches in seinem Milieu, wie der 1827 von Marco de Saint-Hilaire veröffentlichte Dandy-Ratgeber unmissverständlich zu verstehen gibt: Die Kunst, seine Schulden zu zahlen und seine Gläubiger zu befriedigen, ohne auch nur einen Sou selbst aus der Tasche zu nehmen (L’art de payer ses dettes et de satisfaire ses créanciers sans débourser un sou), ein Essay, welcher später - höchstwahrscheinlich irrtümlich - Balzac zugeschrieben wird, der damals berühmtesten Persönlichkeit unter den Schuldnern. Baudelaire hebt sich als einer der ersten französichen Vertreter des von England übernommenen Dandytums hervor. Sein Freund Asselineau beschreibt ihn extravagant gekleidet, selbstinszenierend und über die öffentliche Moral spottend. Alkohol, Haschisch, Opium, Prostitution gehören ebenso dazu, wie die Syphilis. Er lernt seine erste Muse kennen, die dunkelhäutige Tänzerin und Schauspielerin Jeanne Duval, seine „Venus noire“. Ihre Liaison wird vierzehn Jahre dauern, schließt aber andere Musen nicht aus. Mit Marie Daubrin, einer weiteren Schauspielerin und Appolonie de Sabatier, der attraktiven Vorsitzenden („La Présidente“ ) eines Salons in der rue Frochot  – hier trifft er Flaubert, Du Camp, Nerval, Gautier, die Brüder Goncourt und andere - finden zwei weitere weibliche Namen Eingang in sein Werk, ja bestimmen ganze Gedichtszyklen. Fremdländischer Duft (Parfum exotique),  Harmonie des Abends (Harmonie du soir), An eine Madonna (A une madone),  Die tanzende Schlange (Le serpent qui danse), Das Gift (Le poison), Ein Aas  (Une Charogne): Gegensätzlicher kann man solche dem femininen Geschlecht gewidmete Poesie nicht betiteln. „Zärtlich, sanft und grausam“ blicken sie ihn an. Eine Kluft die es zu überwinden gilt. „O gefährliches Weib!“, aber dann heißt es in der wohlüberlegten Anordung seiner Gedichte, inmitten der Sektion Spleen und Ideal auch: „O weiche Zauberin! (…) deine Schönheit will ich dir malen“.   Baudelaire umkreist jedes seiner Themen, seziert, analysiert und beleuchtet diese von allen Seiten um die Totalität aller Facetten der menschlichen Daseinsform ungeschönt vor Augen zu führen: „Die Beine abgespreizt, gleich einem geilen Weib, heiß seine Gifte schwitzend“. Er schockiert gewollt, auch heute noch. Schließlich sollen „gewisse Scheußlichkeiten, von denen es heißt, man müsse sie verschweigen und vergessen, [...] zur Sprache gebracht werden, um sowohl die Sittlichkeit als auch das Bewusstsein der Mit- und Nachwelt zu befördern“.
  Die Provokation ist  bei Baudelaire ein gezieltes Instrument, um seine Leser in eine neue Welt der Empfindsamkeit zu führen.  Das Unerwartete wird in seiner Gegensätzlichkeit dargestellt, die entsprechend rhetorische Form dazu lautet – bereits der Titel seines Hauptwerkes Die Blumen des Bösen drückt es aus-  Oxymoron. Das Dissonante führt dabei aber auch zu einer Distanz zwischen Werk und Leser, zwischen Kunst und Betrachter und verleiht so dem Kunstschaffenden eine singuläre Position, vereinbar mit seinem Gefühl der Einsamkeit und seiner Rolle als Mittler, als „Priester“: Er will das Ungesagte sagen, er will das Unsichtbare sichtbar machen. Baudelaires Wissensdurst ist enorm. Er greift auf den Fundus griechischer und römischer Philosophien zurück und schöpft aus Texten und Mythologien der Antike gleichermaßen, wie aus der zeitgenössichen romantischen Ideenwelt oder den mystischen Schriften von Hemsterhuis, Lavater, Swedenborg, Sainte-Boeuve, Joseph-de Maistre, Saint-Martin – die Liste ließe sich fortsetzen. In Mon coeur mis à nud (Notizen meines entblößten Herzens) gesteht er: „Dès mon enfance, tendance à la mysticité“. Seit seiner Kindheit fühlt er sich vom Spirituellen angezogen. Eine Aussage die von der Literaturkritik nur wenig beachtet ist, zu sehr lastet die Rolle des poetisierenden Erneuerers, des Wegbereiters der Moderne auf ihm. Aber Baudelaire ist stets auf der Suche nach dem Mystischen. Wie ein roter Faden durchzieht diese Thematik sein ganzes Werk. Die einleitenden Gedichte in Die Blumen des Bösen verweisen in ihren Titeln darauf: Segen (Bénédiction), Erhebung (Elévation) , Entsprechungen (Correspondances). „Zum Himmel, wo sein Auge herrlich einen Thron erblickt, reckt unverstört der Dichter seine Arme (...)“
  Das letzte Gedicht Le Voyage, in der abschließenden Sektion Der Tod (La Mort) löst die allgegenwärtige Spannungsdynamik des gesamten Werkes in einer tragischen, inhaltslosen Idealität auf. Die Akzeptanz des Todes aber resultiert allein aus der Möglichkeit die transzendentale Suche nach dem „Unbekannten“ fortzusetzen und „Neues“ zu finden.
  Auch aus der romantischen Literatur konnte er diese Thematik herausfiltern, losgelöst von der christlichen Tradition - Baudelaire ist kein Christ. Er bezeugt der Romantik seine persönlichen „Stigmata“ zu verdanken, verehrt Jean Paul und E.T.A Hoffmann: Für ihn „der Göttliche“. Nur zu gerne hätte er dem französischen Publikum die Werke des deutschen Romantikers präsentiert, doch deren Übersetzung lag bereits seit 1830 durch Loève-Veimars vor. Mit Edgar Allan Poe wird er alternativ fündig. Der Einfluss des amerikanischen Autors auf Baudelaire ist fundamental, er findet in ihm einen Geistesverwandten. Die Darstellung des Grotesken, der fragilen Grenze zwischen Leben und Tod, von Vernunft und Wahnsinn in Poes Werk, sprengt die bis dahin gängige Vorstellung romantischer Ästhetik. Für den Pariser Dichter eine Offenbarung und der Beginn für  eine fünfzehn Jahre andauerende Übersetzungsarbeit. Baudelaires Faszination für den in Europa zu seiner Zeit weitgehend unbekannten Autor verdankt die französische Leserschaft eine bis heute unübertroffene Übersetzung der Unheimlichen Geschichten. Mit der Publikation des ersten Bandes 1856 hofft Baudelaire nicht nur einen finanziellen Nutzen zu ziehen, sondern in gewisser Weise auch den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung befriedigen zu können. Anders als erwartet werden Kritiker seiner Zeit ihn nach der Veröffentlichung der Blumen des Bösen jedoch mit dem Verweis auf Poe des Plagiats beschuldigen. Verbittert äußert er sich dazu in einem Brief:

  „Ich habe viel Zeit damit verschwendet, Edgar Poe zu übersetzen, und alles, was ich gewonnen habe, war, dass einige Leute mich beschuldigten, meine Gedichte von Poe zu nehmen (…).“

  Baudelaire kämpft um Ruhm und lebt damit im Widerspruch mit sich selbst. Hier der Dandy, dort die Suche nach bürgerlicher Akzeptanz. Ein ebenso unerklärliches Kapitel in seiner Biographie wie seine zwischen 1861 und 1863 vergeblich gestellten Anträge zur Aufnahme in die Accadémie française. Er sieht sich ein Leben lang als ein von der Gesellschaft Verstoßener.
  Die Veröffentlichung der Erstausgabe der Blumen des Bösen zieht unmittelbar einen Strafprozess nach sich. Sowohl der Autor, als auch sein Verleger Poulet-Malassis befinden sich in den Fängen desselben Staatsanwaltes, der wenige Monate zuvor schon Gustave Flaubert wegen seines Romans Madame Bovary vor Gericht zitiert hatte. Beide werden am 20. August 1857 wegen Blasphemie und Beleidigung der öffentlichen Moral zu Geldstrafen verurteilt. Entscheidend für den Staatsanwalt Ernest Pinard ist „jenes krankhafte Fieber, das dazu führt, alles zu schildern, alles zu beschreiben, alles zu sagen“. Sechs der Gedichte müssen aus dem Band entfernt werden.  Für Baudelaire kommt es einer Verstümmelung seines Werkes gleich. Er hat es als seriell komponiertes Ganzes geordnet -  Hugo Friedrich bezeichnet es neben Petrarcas Canzoniere, Goethes Westöstlichem Divan und Guilléns Cántico, als „das architektonisch strengste Buch der europäischen Lyrik“. Eine zweite Ausgabe erscheint daher 1861 um fünfunddreißig Gedichte erweitert, stellt den Autor selbst aber nur bedingt zufrieden. Die 1868 posthum veröffentlichte dritte Ausgabe integriert schließlich wieder die ursprünglich zensierten Gedichte. Sechs Abteilungen strukturieren den Lyrikband: Spleen und Ideal, Pariser Bilder, Der Wein, Blumen des Bösen, Aufruhr, Der Tod. Das tatsächlich zugrunde liegende architektonische Konzept gibt aber bis heute seinen Kritikern Rätsel auf. In einem Brief an seine Mutter hat Baudelaire trotz aller Widerstände den Erfolg seines Werkes prophezeit:

„Sie wissen, dass Literatur und Künste für mich moralfremde Ziele verfolgen und dass die Schönheit des Entwurfs und des Stils mir genügen (…) dieses Werk wird sich mit seinen Qualitäten und Schwächen seinen Weg im Gedächtnis der literarischen Öffentlichkeit bahnen, neben den besten Gedichten von V. Hugo, Th. Gautier und selbst Byron.“
  
  Die gängigste Formel seiner Gedichte lautet: Rhythmus und Klang der französischen Sprache, im feierlichen Versmaß des Alexandriners, eingebunden in die Strophen eines Sonetts, wobei eine perfektionistische, akribische Wortwahl  assoziativ-phonetisch neben den evozierten Bildern eine suggestive, zusätzliche Sinnesebene schafft. Eine derartige Sprachmagie verweigert sich jedoch der Übersetzung in eine andere Sprache. Die Übertragung von Energie an einen anderen Ort ist stets mit Energieverlust verbunden, ähnlich entstehen Verluste bei der Übertragung eines Werkes von einer Sprache in eine andere. Die Verluste sind gering, wenn es sich um Prosa handelt, extrem wenn es versgebundene Dichtung ist. Stefan George, Walter Benjamin, Carlo Schmid und unzählige andere haben sich daran versucht, zuletzt Simon Werle, mit diskutablem Erfolg. Die Lyrik Baudelaires stellt jeden Übersetzer vor eine fast unlösbare Aufgabe, sie kann nur in einen extremen Kompromiss münden, mit Verzicht auf die formale, originäre Form zu Gunsten der Konzentration auf den Inhalt und dem Ziel einer Annäherung.
  Baudelaires literarische Revolte manifestiert sich in einer Lyrik, die prosaische Züge trägt, sie führt umgekehrt aber in der Konsequenz auch zu einer Prosa die lyrisch ist: Mit dem Spleen von Paris, auch als Prosagedichte betitelt,  entstanden zwischen 1857 und 1864, betritt er wieder Neuland. Tatsächlich ist es kein „absoluter Neubeginn“, wie etwa George Blin kommentiert. Aloysius Bertrands Gaspard de la Nuit und die Hymnen an die Nacht des Frühromantikers Novalis lieferten bereits die Vorlage zu dieser Neuentwicklung eines Gedichtsprinzips, aber erst mit Baudelaire kann sich diese neue Kunstform etablieren, er leistet ihr Vorschub, oder mit den Worten Gottfried Benns: „Tradition schaffen heißt, enorm gespannte Leitungen berühren und sie weiterführen können“. Der Spleen von Paris soll zum Pendant der Blumen des Bösen werden, wie Baudelaire am 6. Februar 1866 Hippolyte Garnier mitteilt. Die Thematiken beider Werke sind demnach deckungsgleich. Bei den jeweils gleichnamigen Gedichten Einladung zur Reise (Invitation au voyage) und Die Abenddämmerung (Le crépuscule du soir) ist dies überdeutlich. Auch die geplante Zahl von einhundert Kompositionen soll dem entsprechen. Es werden jedoch nur fünzig werden und Baudelaire wird sie nicht selbst ordnen können. Zu früh ereilt den Dichter der Tod. Die Veröffentlichung unter dem Titel Petits Poèmes en prose übernehmen 1869 posthum seine Freunde Charles Asselineau und Thódore de Banville. Als Chronist der Großstadt und als Chronist der menschlichen Seele bekräftigt er mit diesem weiteren Werk seinen späteren Weltruf. Die nachfolgenden Generationen der Symbolisten und Surrealisten werden sich auf ihn berufen. Rimbauds Illuminationen und Eine Zeit in der Hölle sind ohne Baudelaire nur schwer denkbar. Mallarmé, Verlaine, Valérie, Maeterlinck, George, Rilke, Hoffmannsthal, sie alle treten sein Erbe an.
  Keines seiner Werke ist Konfessionslyrik, vielmehr kann erstmals von der Entpersönlichung der Lyrik gsprochen werden. So heißt es bei ihm: „Die Empfindsamkeit des Herzens ist dem dichterischen Arbeiten nicht günstig“. Der Dichtung Baudelaires geht ein mit scharfem Verstand erarbeitetes poetologisches Konzept voraus. Seine Ideen dazu sind in unterschiedlichsten von ihm verfassten Schriften niedergelegt.  Vierundzwanzig Jahre jung schreibt er seine ersten kunstkritischen Kommentare für den Salon 1845, danach für den Salon 1846 und 1859. Er nimmt in erfrischend poetischer Ausdrucksform den Kampf gegen einen erstarrten Klassizismus auf, gegen die ästhetische Vollmacht der staatlichen Institutionen. Seine Ausstellungsberichte werden die zukünftige Kunstkritik beeinflussen, sie nehmen bereits das Credo der „Kunst für die Kunst“ („l'art pour l'art“) des zukünftigen Dichterzirkels der Parnassiens vorweg. In ihnen wird schon deutlich, dass er ein neues kohärentes, programmatisches Kunstverständnis vertritt, in dem der Realismus durch die Phantasie, das Irrationale und Träumerische verdrängt wird: „Der gesunde Verstand sagt uns, dass die Dinge der Erde nur wenig Realität besitzen und dass es wahre Wirklichkeit nur in den Träumen gibt.“ Die neue technische Errungenschaft der bildlichen Abbildung durch die  Photogaphie lehnt er ab, er sieht in ihr das „Refugium des gescheiterten Malers“. Mit dieser Beurteilung einher geht seine Definition des Fortschrittes, der für ihn die „Abnahme der Seele und die Zunahme der Materie“ ist.
  Baudelaire wählt die geistige Flucht aus einer Welt der Spekulanten, des großstädtischen Konsums und der Armut der Industriearbeiter. Jede reale Erfahrung wird von ihm symbolisch gedeutet, dem intellektuellen Arbeitswillen des Dichters untergordnet und in eine neue Vision transformiert. In diesem Kontext begrüßt er die durch Drogen künstlich hervorgerufene Halluzination als kreatives und seherisches Hilfsmittel zu Auflösung und Umdeutung der Realität. Er widmet diesem Thema eine philosophisch ästhetische Analyse. 1851 veröffentlicht er zunächst einen Essay über Wein und Haschisch (Du vin et du hachish), 1860 folgt dann der Band Die künstlichen Paradiese (Les paradis  artificiels), welcher um die beiden Texte Das Gedicht vom Haschisch (Le Poéme du haschisch) und Ein Opiumesser (Un mangeur d'opium) erweitert ist. Dabei adaptiert er die Bekenntnisse eines englischen Opiumessers des englischen Autors Thomas  de Quincey, ein ihm in Zügen ähnlicher Außenseiter und Grenzgänger. Baudelare ist auf der Suche nach dem „künstlichen Ideal“ („Idéal artificiel“), dem  „Übernatürlichen“ („extra-naturel“), dem Schlüssel zu einer metaphysischen Welt. Glück, Leiden und Schmerz sind für ihn damit verbunden. Er erkennt im Haschisch- und Opiumkonsum das Fatale, den Willen zerstörenden Effekt, der Konsum des Weines dagegen scheint ihm sublime Befreiung und Zugang zum Göttlichen zu gewähren. Welche Bedeutung Baudelaire dem Rausch beimisst, zeigt sich in der dritten Sektion der Blumen des Bösen, die bezeichnenderweise den Titel Wein trägt:
„Du schenkst ihm Hoffnung ein, Jugend und Leben,- und den Stolz, diesen Schatz des Gesindels, der uns zu Siegern und den Göttern ähnlich macht.“
  Es sind aber vor allem die synästhetische Erfahrung im Gedicht Korrespondenz und die halluzinatorische Vision im Pariser Traum, deren Motive als künstlerische Inspirationsquelle tradiert werden und das Bild des „Voyant“ ( des Sehers) prägen. Baudelaires Visionen werden zur Referenz künstlerisch und sozial revoltierender Generationen. „Die Phantasie an die Macht“ - mehr als nur ein romantischer Nachhall - wird die Parole des Künstlers Pierre Soulages zur Unterstützung des studentischen Aufstandes in Paris 1968 lauten.
  Baudelaire stirbt am 31. August 1867 an den Folgen eines Schlaganfalls im Alter von nur sechsundvierzig Jahren. Nur wenige treue Freunde begleiten den Trauerzug, darunter Verlaine, Champfleury, Banville, Asselineau. Nicht anwesend sind Gautier, Sainte-Beuve, Vertreter litterarischer Gesellschaften, oder des Bildungsministeriums. Er wird auf dem Friedhof Montparnasse im Grab des gehassten Stiefvaters Aupick beigesetzt. Die Pariser Gesellschaft ist von seinem Tod nicht bewegt, die Presse urteilt am 7. September in einem Nachwort über ihn vernichtend. Friedrich Nietzsches beschriebene „dekadente“ Sensibilität fällt auf Baudelaire ebenso zurück, wie der von Paul Verlaine geprägte Begriff der Poètes maudits, der verdammten Poeten, deren Existenz düster, satanisch und selbstzerstörerisch bestimmt ist.

Marco Ferroni








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